Wie oft verzweifeln Sie an Texten, die umständlich formuliert sind, ein schlechtes Layout haben, die Sie mehrmals lesen müssen, um sie zu verstehen? Wissen Sie, dass es in Deutschland zirka 17 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter (18 bis 64 Jahre) immer so geht? Das sind 32,5 Prozent der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung. (Quelle: LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität)
Alle diese Menschen haben Schwierigkeiten, allgemein- und fachsprachliche Texte zu lesen und zu verstehen. Sie sind auf die Hilfe Dritter angewiesen. Informationen auf Internetseiten, bei Behörden, beim Arzt oder in Zeitungen sind für sie nicht zugänglich. Texte in Museen und Ausstellungen sowie literarische Texte bleiben ihnen verwehrt. Um selbstbestimmt am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können, brauchen diese Menschen Texte in Leichter Sprache.
Was ist Leichte Sprache?
Das Konzept der Leichten Sprache geht zurück auf die Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Behinderung. Weltweit gibt es Netzwerke und Vereinigungen, die sich für Leichte Sprache einsetzen und zu ihrer Etablierung beitragen. In Deutschland sind das insbesondere Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland, das Netzwerk Leichte Sprache und die Bundesvereinigung Lebenshilfe. Die Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim (gegründet 2014) beleuchtet das Thema aus wissenschaftlicher Perspektive. Damit wird das, was sich aus der Praxis heraus entwickelt hat, wissenschaftlich untermauert.
Leichte Sprache ist eine vereinfachte Form des Deutschen. Sie ist aber kein falsches Deutsch. Mit ihr soll Kommunikation barrierefrei oder zumindest barrierearm gestaltet werden. Bei dem Wort „barrierefrei“ fallen uns meistens zuerst Rollstuhlrampen, Blindenleitsysteme oder akustische Signale an Ampeln ein. Barrierefreiheit muss jedoch auch für den Zugang zu Informationen gewährleistet sein. Leichte Sprache baut diese Barrieren ab und macht Texte verständlicher. Hierbei wird auf Wort, Satz- und Textebene vereinfacht. Das heißt, es werden möglichst kurze, bekannte Wörter verwendet, Fach- und Fremdwörter werden vermieden oder erklärt, es werden konstante Bezeichnungen gewählt, komplexe Wörter werden gegliedert. Die Texte bestehen aus kurzen Sätzen, haben ein übersichtliches Layout und sind gegebenenfalls bebildert.
Texte in Leichter Sprache sind stets ein Zusatzangebot. Sie bilden eine Brücke zu den Texten in Standardsprache. So können Menschen, die nicht dauerhaft auf Leichte-Sprache-Texte angewiesen sind (z. Bsp.: Menschen mit Deutsch als Zweitsprache) nach und nach Zugang zu standardsprachlichen Texten erhalten. Hier haben Leichte-Sprache-Texte eine Lernfunktion.
Wer ist auf Leichte Sprache angewiesen?
Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Hör- und/oder Sehschädigungen, Menschen mit prälingualer Gehörlosigkeit, Menschen mit demenziellen Erkrankungen, Menschen mit Aphasie, funktionale Analphabeten, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit Deutsch als Zweitsprache: sie alle brauchen leicht verständliche Texte.
Texte in Leichter Sprache werden aber auch von vielen gern genutzt, die eigentlich nicht zu den vorgenannten Gruppen gehören. Wie oft nutzen Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung Rollstuhlrampen oder automatische Türöffner, um Zeit und Kraft zu sparen? Mit leicht verständlichen Texten ist es ähnlich.
Wer bietet Leichte-Sprache-Texte an?
Anders als der Name „Leichte Sprache“ suggeriert, ist das Verfassen von Texten in Leichter Sprache oder das Übertragen von allgemein- oder fachsprachlichen Texten in Leichte Sprache keineswegs leicht. Leichte Sprache folgt einem umfangreichen, strikten Regelwerk. Hierzu wird stark in den Ausgangstext eingegriffen. Komplexe Sachverhalte müssen mit einfachen sprachlichen Mitteln aufgelöst werden, gleichzeitig dürfen Informationen nicht verloren gehen. Ausgerichtet auf die Zielgruppe, wird der Text eigentlich neu verfasst.
Hier werden Übersetzerinnen und Dolmetscher, aber auch andere Personen, die beruflich mit dem Schreiben von Texten befasst sind, tätig. Sie haben eine spezifische Ausbildung für das Übersetzen oder Dolmetschen in Leichte Sprache absolviert. Die schriftliche bzw. mündliche Textarbeit ist ihr Metier und sie wissen, wie Texte wirken und wie man Sprache zielgruppengerecht einsetzen kann.
Wo wird Leichte Sprache benötigt?
Wenn es um Teilhabe und Selbstbestimmung geht, sollten eigentlich alle Texte auch in einer leicht verständlichen Form zur Verfügung stehen. Besonders wichtig sind Leichte-Sprache-Texte aber in allen Bereichen, in denen es um Handlungsanweisungen oder die Übermittlung wichtiger Informationen geht. Woher weiß ich, welche Rechte ich habe oder wie ich mich und andere vor einem Virus schützen kann, wenn ich an den Texten scheitere?
Dies betrifft immer auch die gesprochene Sprache. Deshalb werden zum Beispiel bei Konferenzen, Fachvorträgen, Behördengängen oder beim Arzt auch Dolmetscherinnen für Leichte Sprache eingesetzt.
Warum Sie über den Einsatz von Leichter Sprache nachdenken sollten.
Behörden sind mittlerweile gesetzlich verpflichtet, Informationen in leicht verständlicher Form zur Verfügung zu stellen. Aber auch Unternehmen sollten überlegen, ob es für sie nicht auch sinnvoll wäre, Texte in Leichter Sprache anzubieten.
Sie zeigen damit, dass Diversität und Inklusion bei ihnen eine Rolle spielt. Mit barrierefreien Texten (und Websites) gewinnen sie die Aufmerksamkeit von Kundinnen und Kunden, denen bestimmte Werte wichtig sind bzw. die selbst auf diese Texte angewiesen sind.
Wenn Texte von Behörden, Einrichtungen und Unternehmen die Zielgruppe nicht erreichen, ist es schade um die Zeit und die Ressourcen, die für das Verfassen dieser Texte eingesetzt wurden. Wenn Informationen nicht ankommen und nicht verstanden werden, entstehen Missverständnisse. Der Aufwand und die damit verbundene Kosten könnten vermieden werden, wenn von vornherein an eine verständlichere Kommunikation gedacht würde.
Katrin Mai ist Übersetzerin für Englisch|Deutsch in den Bereichen Recht und Wirtschaft und ist daher mit dem Auseinandernehmen komplizierter Texte vertraut. Ihr Zertifikat zur Übersetzerin für Leichte Sprache hat sie 2019 an der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim erworben. Aktuell befasst sie sich mit der sprachlichen Vereinfachung von Behördentexten und findet, dass Deutschland im internationalen Vergleich in punkto leicht verständliche Texte mächtig aufholen muss.
Mehr über Katrin Mai gibt es auf ihrer Website www.katrin-mai.de